Anläßlich des Gottesdienstes hielt Pfarrerin Silke Alves-Christe eine beeindruckend Predigt. Hier ist sie zum Nachlesen:
Gottesdienst unter lautem Himmel am Goetheturm, 07.07.2024
Liebe Gemeinde am Goetheturm!
Manche Menschen unter den Flugschneisen, die seit nun schon mehr als 12 Jahren unter dem lauten Himmel über sich leiden, haben aufgegeben, haben sich abgefunden, haben versucht, sich irgendwie zu arrangieren, sich einzuschränken, indem sie Balkon und Garten viel seltener nutzen und die Fenster viel öfter geschlossen lassen.
Andere Menschen sind krank geworden, leiden unter Schlafstörungen, innerer Unruhe, Nervosität und krankmachendem Stress, kommen aber nicht auf die Idee, dass diese Symptome mit der ständigen Überflugbelastung in Zusammenhang stehen.
Und die, die diesen Zusammenhang sehr wohl sehen, können ihn nicht beweisen, bleiben allein mit den Beeinträchtigungen, die ihnen zu schaffen machen, die ihre Lebensfreude und Lebensqualität mindern.
Mir selbst gelingt es nur zeitweise, mich mit der Belastung des lauten Himmels über mir zu arrangieren. Zwischen Phasen, in denen ich die Lärmbelastung irgendwie erdulde, kommen immer wieder Zeiten, wo ich mich hilflos ausgeliefert fühle und am liebsten aufschreien oder anschreien möchte gegen den bedrohlichen, bedrückenden Lärm, der mich aus der Konzentration reißt.
Zwischen irgendwie erträglichen Stunden kommen immer wieder unerträgliche Lärmkonzentrationen. Die Brutalität von oben empfinde ich dann nicht einfach als Lärm, der mich stört, sondern als einen Angriff auf meine Persönlichkeitsrechte, auf meine Freiheit und meine Würde. Ja, würdelos fühle ich mich dann.
Als wir das Grundgesetz gefeiert haben, kam mir immer wieder in den Sinn:
Nein, meine Würde ist nicht unantastbar. Meine Würde wird immer wieder angetastet durch brutale Lärmereignisse über meinem Kopf, die mich erschrecken, aus der Konzentration reißen, in Unruhe versetzen und mir den inneren Frieden nehmen.
Und ich bringe diese Hilflosigkeit und Würdelosigkeit nicht zusammen mit dem angeblich so hoch entwickelten Rechtsstaat, in dem ich lebe und in dem ich doch nicht geschützt werde.
Im Bibelkreis unserer Gemeinde lesen wir zur Zeit die Urgeschichte, die ersten Kapitel der Bibel, und da ich mich gerade auf die Besprechung der Sintflutgeschichte vorbereite, möchte ich heute eine interessante Entdeckung mit Ihnen teilen.
Uralte mythologische Erzählungen zu den Themen Schöpfung und Sintflut gibt es nicht nur in der Bibel. Weltweit gibt es in den unterschiedlichsten alten Kulturen Parallelen zur biblischen Sintfluterzählung in einer Fülle von Varianten. In diesen uralten Mythen werden menschliche Grunderfahrungen und tiefsitzende traumatische Ängste verarbeitet. Das jeweils besondere dieser Geschichten aus unterschiedlichen Kulturen liegt in den unterschiedlichen Gründen, warum die Menschheit fast ausgelöscht werden soll. Sie lassen ein jeweils aktuelles Nachdenken über Bedrohungen und über menschliche Schuld erkennen.
In der biblischen Geschichte von der Sintflut und der Arche Noah ist der Grund für Gottes Entschluss zur Vernichtung der von ihm geschaffenen Menschheit die sich ausbreitende Gewalt, die Menschen einander antaten. Universale Gewalt zerstörte alle Beziehungen, die zwischen Mann und Frau, zwischen Alt und Jung, zwischen Völkern, auch die zwischen Mensch und Natur. Die Sintflut ist in der Bibel als Gottes Reaktion auf die extreme Verrohung der Gesellschaft verstanden, auf seinen Versuch, der überall um sich greifenden Gewalt ein Ende zu setzen, einer immer brutaler werdenden Gewalt, die das menschliche Zusammenleben zerstört.
Eine interessante Parallele zur biblischen Sintfluterzählung findet sich in einem altbaylonischen Mythos, also einer noch älteren Erzählung, aus dem Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris. Entstanden ist dieser sogenannte Atramchasis-Mythos vor etwa 4000 Jahren in den Anfängen der Stadtkultur, die in Mesopotamien, also etwa dem Gebiet des heutigen Irak, lag. Ich zitiere einige Zeilen aus diesem Mythos:
Die Menschen wurden immer mehr,
das Land lärmte wie Stiere,
durch ihr lautes Tun geriet der Gott in Unruhe
Enlil hörte ihr Geschrei,
er sprach zu den großen Göttern:
Zu lästig wird mir das Geschrei der Menschen,
infolge ihres lauten Tuns entbehre ich den Schlaf.
Soweit einige Zeilen aus diesem altbabylonischen Atramchasis-Mythos, der eine uralte Parallele zur biblischen Sintflutgeschichte darstellt.
In der Fortsetzung gibt dann der Gott Enlil den anderen Göttern den Befehl, die zu lauten Menschen zu bestrafen, zuerst mit Krankheiten, dann mit Dürre und Hunger. Und weil der Lärm, der die Götter nicht schlafen lässt, nicht aufhört, beschließt endlich die Versammlung der Götter, mit einer Flut die gesamte lärmende Menschheit zu vernichten.
Nur einer der Götter rettet heimlich den Helden, nach dem das Epos benannt ist: Atramchasis, vergleichbar dem biblischen Noah.
In Babylonien, der Wiege menschlicher Hochkultur, ist es also Lärm, zunehmender, unerträglicher Krach, den die Menschen hervorbringen und der die Götter nicht schlafen lässt und deshalb zornig macht. Die Städte des Zwei-Strom-Landes waren die ersten in der Menschheitsgeschichte, wie weit weg müssen sie vor 4 Jahrtausenden von unseren Lärmmöglichkeiten gewesen sein, ohne Maschinen, Autos, Flugzeuge. Aber Marktgeschrei, kreischende Wagen, Tiergebrüll, nächtliches Singen und Grölen Betrunkener gab es offenbar bereits und störte Ruhe und Schlaf, nicht nur der Menschen, sondern sogar der Götter.
Interessant: Seit Menschen in Städten zusammenleben, gibt es also den Kampf gegen Lärm.
Wir haben uns in den 4000 Jahren unendlich weiterentwickelt, wir haben den Lärm, den Menschen produzieren, unendlich potenziert, aber leider haben wir die Weisheit verloren,
die in diesen uralten Mythen steckt.
In der Bibel, wo bei der Sintflutgeschichte nicht Lärm, sondern Brutalität und Gewalt der Menschen die Ursache für die Auslöschung und den Neubeginn mit Noah war, ist Ruhe auch ein entscheidend wichtiges Thema.
Schon vor der Sintflut, gleich in der biblischen Schöpfungsgeschichte, ist berichtet, dass Gott am siebenten Tage ruhte von allen seinen Werken, die er gemacht hatte.
Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn,
weil er an ihm ruhte von allen seinen Werken, die Gott geschaffen und gemacht hatte.
So finden wir in der Bibel zwar nicht einen lärmgeplagten, aber doch einen ruhebedürftigen Gott, der – das ist in der Bibel immer wieder erwähnt – auch uns diese Ruhe gönnt, ja der diese Feiertagsruhe sogar zu einem der 10 Gebote macht.
Mit diesem Gebot wird dem menschlichen Lärm wenigstens eine Grenze gesetzt:
die erholsame Lärmpause eines ganzen Tages und einer ganzen Nacht jede Woche.
Unsere Kirche setzt sich ein für den Schutz des Sonntags und der Feiertage. Sie verbreitet den Slogan: „Ohne Sonntag gibt es nur noch Werktage.“ Aber für die Menschen, die unter der Einflugschneise wohnen, gibt es sowieso nur noch Werktage, ohne Unterschied werden wir auch sonntags und feiertags um 5 Uhr früh aus dem Schlaf gerissen; und die Ruhetage, die wir brauchen, die Sonntage und Feiertage, die wir besonders gestalten wollen, die wir heiligen wollen, wie es das dritte Gebot uns sagt, werden zerrissen und zerstört durch die ständige Überflugbelastung.
Dass der Sonntag wie jeder Werktag von lautem Gedröhn der Flugzeuge übertönt wird, ist für die christliche Gestaltung des Lebens ein besonders schwerer Eingriff, aber der wöchentliche Ruhetag ist nicht nur für Christen, sondern für alle Menschen eine heilsame Regeneration.
Wenn Wirtschaftsunternehmen wie Fraport diese notwendigen Erholungspausen nicht respektieren, dann bleibt doch unsere Forderung nach mehr verlässlichen lärmfreien Zeiten, nicht nur zufällige Lärmpausen, wenn die Windrichtung wechselt und nicht nur die zu wenigen lärmfreien Stunden der Nacht. Da werden allzu oft aus den 6 garantierten doch nur 5 Stunden.
Es darf nicht dabei bleiben, dass die Wirtschaft und das Geld die Bedingungen diktieren, unter denen Menschen leben müssen. Grenzenloser Lärm nimmt uns unsere Freiheit und unsere Würde.
Mit Fraport haben wir einen Nachbarn, der Grenzen nicht akzeptiert, der permanent Grenzen überschreitet, einen Nachbarn, der in dem Irrglauben handelt, dass ein grenzenloses Wachstum möglich und nötig sei; einen Nachbarn, der noch nicht gelernt hat, dass die eigene Freiheit ihre Grenze hat an der Freiheit der anderen.
Wir erwarten von den politisch Verantwortlichen, dass unserem Nachbarn Fraport,
der brutal die Grenze des Erträglichen überschritten, Grenzen gesetzt werden,
die uns wieder in Freiheit und in Würde leben lassen, wie Gott es für jeden Menschen vorgesehen hat.
Amen.
Pfarrerin Silke Alves-Christe, www.dreikoenigsgemeinde.de